8. Sarkor

2612 0 0

Den Rückblick nutzend, übernahm ich wieder die Kontrolle über meinen Körper. Es war ein Kampf gegen meine Instinkte. Für mich fühlte es sich an, wie das dringende Verlangen einatmen zu wollen. Aber das durfte ich nicht. Ich hatte diesem Instinkt beim ersten Mal Tauschen mit Hammthal nachgegeben und lag für zwei Wochen danach flach. Solange brauchte ich, um jeden einzelnen Teil meines Körpers wieder in den Griff zu bekommen. Die erste Woche haben Hammthal und ich einfach nur gerätselt, was gerade schieflief. Unter den aktuellen Umständen durfte ich also nicht wieder verkacken. Ich hätte üben sollen.

Hier im Nichts meiner Vorstellung konzentrierte ich mich auf einen imaginären Punkt vor mir. Versuchte mit beiden Händen danach zu greifen. Doch meine Hände wurden von diesem Punkt abgestoßen, nur Millimeter für Millimeter konnte ich mich ihm nähern.

Geduld. Geduld. Ein Stechen in der Lunge ist ein vollkommen normales Gefühl. Wie Sand zwischen den Zehen oder Seewind auf der Haut. Voll Normal. Voll...

"HUhhhh huuuuu." atmete ich laut durch. Es hat geklappt! - Glaube ich.

Ich war im Königssaal und wie ich kamen auch die anderen wieder zu sich. Eine schwere, bitterkalte Präsenz füllte den Raum. Druck, der aus jeder Richtung zu kommen schien. Kälte, die auf die Knochen durchstach. So konnte ich es mir sparen, mir in die Wange zu kneifen. Selbst für mich war diese bittere Kälte ein anderes Kaliber.

Meine seidenen Fäden waren mittlerweile verschwunden. Stattdessen schaute eine saphirblaue Eule von meinem rechten Handrücken zu mir auf. Kommentarlos drehte sie sich zum Vorsitzenden des Hohen Rats und hob geräuschlos ab. Die Spannbreite ihrer Flügel überragte die Schultern des Vorsitzenden bei ungefähr dem Doppelten.

Alle Anwesenden schienen mehr oder weniger bei Bewusstsein zu sein. Wer dazu in der Lage war, folgte der Eule mit seinen Augen. Sie nahm auf der Stuhllehne des Vorsitzenden Platz und überschattete den Raum, so wie es ihre Präsenz bereits tat.

Langsam senkte ich meinen Kopf. Die anderen Korrektoren taten es mir gleich. Der Beschützer und Namensgeber von Sarkorska war präsent, Seelendämon Sarkor.

"Dem Schweigen entnehme ich, dass es keine weiteren Fragen gibt. Dann empfehle ich mich." Die Eulengestalt löste sich auf. Der Druck seiner Präsenz nahm jedoch nur langsam ab. Die Temperatur stieg über den Gefrierpunkt. Ich fühlte mich extrem ausgemergelt. Eine Mischung aus Urin und Angstschweiß waberte durch den Raum.

 Es war nicht vergleichbar zu einem Einblick in eine fremde Erinnerung. Es war, als hätten wir in seinen Schuhen gesteckt. Die Angst, Furcht und der Tod waren so hautnah gewesen, wie es nur irgend möglich war. Es war weniger eine Demonstration als ein Instrument der Folter, wie ich es seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Von den neun Ratsmitgliedern blickten die meisten ungezielt in den Raum. Sie starrten wortwörtlich Löcher in die Luft. Rodney Garrison zitterte wie Espenlaub, mit leichenblassem Gesicht. Nicht, dass die Ratsmitglieder die Schrecken des Krieges vor knapp 70 Jahren groß miterlebt hätten. Doch diese Aktion war schlichtweg traumatisierend. Einem Seelendämon würdig?

"Korrektor Richard Thal", sagte der Vorsitzende gepresst, "in Anbetracht der Möglichkeit, dass ein neuer Seelendämon das Licht der Welt erblickt hat." Seine ganze Kraft legte er in diese Worte. Von seinem erhöhten Stuhl fixierte er mich mit verbissenem Blick. "Und so den Tod unserer geschätzten Korrektoren verursacht hat, beauftrage ich Sie, diese Sache aufzuklären. Des Weiteren hat ein etwaig neuer Dämon sich unter Kontrolle von uns oder unseren Alliierten zu befinden. Wer gegen diese Entscheidung ist, möge Einwände erheben."

Schweigen.

Ich hob meine rechte Faust aufs Herz. "Auf den Hohen Rat und bei den Pflichten des Korrektorats schwöre ich diesen Auftrag zu erfüllen."

"Damit beende ich diese Sitzung des Hohen Rats." entschied der Vorsitzende und sank in seinem Stuhl zusammen. Bei diesen Worten eilte ein Schreiber, sowie einige weitere Korrektoren herein. Der Schreiber würde in Kürze vertretend für den Vorsitzenden das Parlament über die Entscheidung in Kenntnis setzen. Meine Aufmerksamkeit lag hingegen auf Magnus. Gestützt von zwei frischen Korrektoren, wurde er zum Ausgang gebracht.

Ich hatte ihn nur kurz durch Hammthal sehen können, aber sein Zustand musste kritisch sein. So viel sagte mir meine eigene Erfahrung mit blauen Seelenflammen. Die Namen der beiden Korrektoren, die ihn stützten, blitzten vor meinem inneren Auge auf.

"Liman, Roman, bitte wartet kurz.", ich klang außer Atem. Leichte Dampfwölkchen stiegen vor meinem Gesicht auf. Ich holte langsamer zu ihnen auf, als ich wollte.

"Wir müssen zur Krankenstation."

"Pronto."

"Keine Widerrede."

"So siehts aus."

"Frei machen", befahl ich ihre Einwände übergehend.

Statt der gewöhnlichen Kälte spürte ich eine angenehme Wärme in meiner Brust. Sie breitete sich zielgerichtet meinen rechten Arm entlang aus. Eine kleine grüne Flamme erschien auf der Spitze meines Zeigefingers. Von Sekunde zu Sekunde wurde sie intensiver, bis sie schließlich ein tiefes Waldgrün angenommen hatte. Liman und Roman senkten Magnus auf den Boden ab und legten seine Brust frei.

Wie befürchtet. Blaue Lippen, sehr blasse Haut und Frostbrand im Brustbereich, wo sich das Seelenorgan befand. Gefrorenes Blut haftete an seinem Gesicht und Händen. Wo er gestanden hatte, begann eine beachtliche Menge Blut zu schmelzen. Blaue Seelenflammen sind ein zweischneidiges Schwert, ähnlich der roten Seelenflammen. Wer die Temperaturen nicht mehr kontrollieren kann, stirbt durch seine eigene Kraft. Diese stumpfe Realität hatte schon vielen Menschen das Leben gekostet. Erst recht Kindern, die unmöglich kontrollieren konnten, was sie da hervor beschworen. Eine der vielen Gründe, warum wir als Teufel gesehen werden.

- Regeneration -

Sowie meine Flamme in Magnus eindrang, entspannte sich sein Gesichtsausdruck. Die Spuren von Frostbrand gingen langsam zurück. Was ich da vollführte, war nicht mehr als Erste Hilfe, wie sie jeder Korrektor mit Seelenkristallen lernt. Nur das mir hier Hammthal aushalf.

"Da... ke"

"Ihr habt heute mehr wie einen Seelendämon beeindruckt. Also ruht euch aus."

Liman und Roman halfen Magnus auf. Auf ihre Schultern gestützt, machten sie sich auf den Weg zum Parlamentsarzt. Ich begab mich unterdessen auf den Weg nach draußen. Dem Hohen Rat schenkte ich keine weitere Aufmerksamkeit. Was getan war, war getan.

Danke Hammthal.

Das ist das mindeste. Entgegnete er.

Dem stimm’ ich zu, meine Herren. Mischte sich Sarkor ein.

Das hab ich nicht verdient.

Was? Fragte Hammthal.

Sehr wohl. Sagte Sarkor.

Zwei Seelendämonen in meinem Kopf sind zwei zu viel.

Selbst Schuld, wenn ihr eine Domäne in meiner Domäne aufmacht. Stichelte Sarkor weiter.

Als hätten wir eine Wahl gehabt.

Du hast drum gebeten. Erinnerte Hammthal.

Na immerhin hat er Manieren. Kommentierte Sarkor.

Genug.

Ich stand mittlerweile draußen vor den Türen des Palasts, der heute im Königssaal den Hohen Rat empfangen hatte. Vor mir lagen einige Treppenstufen. Im umgebauten Parlamentsflügel zu meiner Rechten hauste, wie der Name nahe legte, das Parlament von Sarkorska. Der Flügel zu meiner Linken war zu einem Sammelsurium an Büros, kleinen Sälen und Archiven umfunktioniert worden. Aus Gästezimmern, Annehmlichkeiten des Hofes und Räumen für die Hausangestellten war Platz für eine parlamentarische Technokratie geworden.

Auf meiner rechten Schulter materialisierte sich eine kleinere Version der saphierblauen Eule von vorhin. Langsam nahm sie an Gewicht zu. Von ihr strömte eine Kälte aus, die die winterlichen Temperaturen noch bei weitem übertraf. Interessanterweise machten die Schneeflocken jedoch einen Bogen um sie.

"Danke für deine helfende Hand", sprach ich zu Seelendämon Sarkor.

"Als eine meiner ersten Erinnerungen, ist sie doch wieder erwartend eine der Frischesten. Wer hätte es gedacht."

"Die Archivarin wird euch in Kürze aufsuchen."

"Uh ja, endlich." Eine kindische Freude mischte sich in seine Stimme. "Der olle Hammthal hat mich aus dem Institut ausgeschlossen. Dem Quell des Wissens."

Hey, ich bin immer noch da.

Sarkor klapperte mit dem flammenden Schnabel, als wenn er lachen würde.

"Bis zum nächsten Mal", verabschiedete ich ihn.

"Auf dann."

Dieses Mal löste sich seine Präsenz in Gänze von mir. Erst jetzt konnte ich frei durchatmen. Nichtsdestotrotz waren die Treppen anstrengender, als ich wahrhaben wollte. Doch mit zusammengebissenen Zähnen verzichtete ich auf den Gehstock.

Auf der anderen Straßenseite erwartete mich ein vertrauter Anblick.

"Fürs Protokoll ich bin nicht reingestürmt. Noch nicht."

"Du wärst auch nicht weit gekommen", begrüßte ich Nathan.

"Verdammt, du siehst ja noch beschissener aus als vorher."

"Danke, stets bemüht."

"Komm, steig ein."

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich ging vorn um den Wagen. Schnee sammelte sich auf der hellgrün lackierten Karosserie. Dort, wo die Motorhaube dem Dampfgenerator nahe kam, schmolz der Schnee sofort. So formten sich zwei Kreise auf der Motorhaube.

"Arghhhhh... ja, das ist gut", sank ich in den Sitz. Eine mollige Wärme herrschte im Innenraum. Nathan startete den Wagen.

Plop... Plop... Plop.. Plop. Plop. Plop. Plop.

Der im Institut liebevoll Plopper genannte Oldtimer war mehr eine Designstudie als ein Serienfahrzeug. Ein Zweitakt-Dampfgenerator sorgte für dieses ikonische Geräusch.

"Richard, Geheimnisse zwischen Klient und Anwalt kann ich nicht gutheißen", kommentierte Nathan die Gesamtsituation. Er meinte es bitterernst.

Es herrschte ploppendes Schweigen.

Er hatte recht. Wie so oft. Geheimnisse sind auch eine Bürde. Nicht nur für mich. Das musste ich endlich einsehen. In den Monaten, die ich in Ketten verbracht hatte, war mir dieser Umstand mehr als einmal durch den Kopf gegangen. Andere vor meinen Geheimnissen zu schützen, bedeutete noch lange nicht, dass sie keinen Einfluss auf meine Umgebung hatten. Ja, wahrscheinlich hatten sie die Gesamtsituation nur schlimmer gemacht. Ich musste etwas ändern. Den Entschluss hatte ich gefasst.

Ich hielt meine Finger vor die Lüftung. Warme, leicht humide Luft umschmeichelte sie. "Du hast recht."

"Was ist da drinnen eigentlich vorgefallen? Einige der Korrektoren waren schon fast panisch in den Palast geeilt", wechselte er das Thema.

"..." Ich schloss meine Augen. Kochendes Wasser stieg vor mir auf. Die Schmerzen der Erinnerung flackerten für einen Moment auf. Ruckartig zog ich die Finger von der Lüftung weg. "Ich hab Sarkor um Hilfe gebeten."

"Oh, das ist auch eine solide Verteidigung. Danach ruht die Anklage, würde ich behaupten."

"Eher ein Anschlag", murmelte ich in mich hinein.

"Wie bitte?"

"Wie steht es um die Archivarin? Ich werde sie wegen Sarkor um einen Gefallen bitten müssen."

"Ohhhhh..."

"Nein, nein, nein. Was ist vorgefallen??"

"Richard." Nathan drehte sich für den Moment zu mir. "Du von allen Leuten sollst ihr auf den Arsch gefasst haben."

Ich fasste an meine Brust. Ja, doch mein Herz schlug noch.

"Wie du lebend davon gekommen bist, weiß ich auch nicht, Mann." Er bog an einer Kreuzung ab.

Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?! Warte, du hast nicht gedacht. Verdammt.

Ähm, also...

Bei der Archivarin! Ausgerechnet bei ihr...

...

Ich hielt inne. Auch wenn es mich ein Arm und ein Bein kosten würde, brauchte ich ihre Hilfe.

"Kann ich dich um einen Gefallen bitten?"

"Mein Arsch ist vergeben."

Ich lachte in mich hinein.

"Trommel bitte die hohen Tiere im Institut zusammen."

"Auch die Archivarin?"

"Ja, der Pathologe wird mich schon wieder zusammenflicken."

< ... >
< ... >
< ... >
< Befragungsraum >

Magnus Leupold: "Soll ich sexuelle Belästigung in die Akte aufnehmen?"

Wilhelm Stark: "Klar, auf jeden Fall."

Magnus Leupold: "Ich hatte das nicht so ernst gemeint."

Wilhelm Stark: "Nimmst du Hammthal etwa in Schutz bei so etwas?!"

Magnus Leupold: "Nein, aber du kennst die Archivarin. Sie stellt wegen so etwas keine Anzeige."

Wilhelm Stark: "Ich weiß nicht, worauf du ansprichst und das ändert nichts an der Straftat. Anzeige hin oder her."

Magnus Leupold: "Sagt der, der sich in gleicher Sache einen gebrochenen Arm und drei gebrochene Rippen zu gezogen hat."

Wilhelm Stark: "Das war faires Sparring."

Magnus Leupold: "Sicher."

Wilhelm Stark: "Viel wichtiger. - Beide Seelendämonen stecken unter einer Decke."

Magnus Leupold: "Worauf willst du hinaus? Thal Hamm hat Sarkor nach Scio gebracht. Kein Wunder, dass sie sich verstehen. Und außerdem ist doch jedem bekannt, dass Sarkor die Ausgeburt des Wissenshungers ist."

Wilhelm Stark: "Papalap, ich notier den Austausch nochmal wortgetreu."

Diese Geschichte schließt an Operation Sublimierung an. Siehe hierfür: https://www.worldanvil.com/community/manuscripts/read/2223665389-midnightplay-operation3A-sublimierung
Please Login in order to comment!