Kapitel 25

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Nachdem so viel Zeit verstrichen war, dass Theovin nicht mehr sagen konnte, ob es nachts oder frühmorgens war, stieß er mit dem Rücken gegen eine Wand. Er tastete sie ab, bis seine Hände an der Decke darüber angelangten. Es war eine Luke.
Neue Energie durchflutete den gepeinigten Körper. Auf dem linken Fuß stehend, drückte er mit seinem Kopf und den Händen, die Klappe nach oben. Theovin spürte einen Widerstand. Etwas stand darauf, oder jemand.


Mit all seinem verbliebenen Willen stemmte er die Luke. Ein dünnes Licht schien durch die geschlossenen Lieder. Während Theovin seine Augen öffnete, zog er sich durch die Öffnung. Er ächzte auf, als die Klappe zufiel und dabei sein rechtes Bein streifte. 
Zwei Körper lagen neben ihm. Beide regungslos. Einer hatte die Luke blockiert gehabt. Es war ein Soldat, bärtig, fahl und mit hervorstechenden Wangenknochen. Der Mann klammerte sich an eine Armbrust. Theovin kannte ihn nicht. Daneben ruhte ein bekanntes Gesicht.


Hektisch beugte sich der Gebrochene über den massiven Körper des Bären. Er lag schutzlos da. Schlief er? Der Vernarbte verpasste dem anderen einen Klaps auf die Wange. Keine Reaktion.


Die Gedanken des gebrochenen Mannes, welche bis soeben leer gewesen war, wurden durchflutet von Sorgen und Kummer, als wäre ein Staudamm in seinem Kopf gebrochen. Belasar musste leben. Was würde er nur ohne ihn tun? Er brauchte ihn.
Theovin prügelte auf die Brust des Mannes ein, der ebenso kalt und hart wie der Stein erschien. Das Licht der Sterne ließ den verzweifelten Mann einen Hoffnungsschimmer erahnen. Er konnte Belasars Atem erkennen.


Um sicherzugehen, dass es sich nicht um den Eigenen handelte, hielt Theovin die Luft an. Nach einer Weile entwich eine kaum erkennbare Wolke dem Mund des Größeren.
Er faselte irgendetwas. Der Vernarbte hielt sein Ohr über den Mund des anderen. Das Meiste verstand er nicht. Ein Satz war klar herauszuhören.


„Du warst mein einziger Freund.“


Theovin überhörte ihn nahezu. Der Bär war nicht bei sich. Sein unverständliches Gestammel konnte genauso einem Traum entsprungen sein, aber der Gebrochene wusste, dass die Worte an ihn gerichtet waren.
Zum zweiten Mal auf dem Kriegszug verspürte er Scham. Er begriff, warum er von Belasar anders behandelt worden war. Dieser hatte ihn nicht nur als einen Gefährten, sondern als einen Freund gesehen.


Theovin fühlte sich schrecklich. Ihm war schlagartig egal, was mit dem großen Mann passierte. Er würde sterben. Sie beide. Es gab keinen Ausweg mehr. In diesem Zustand konnte der Bär ihm nicht helfen.


Die Kehle des Gebrochenen war ausgedörrt, als hätte er Sand verschluckt. Lange Zeit hatte sein Herz nicht mehr geschmerzt, aber jetzt tat es das. Er hatte Belasar belogen. Nie hatte sich Theovin zu irgendwem hingezogen gefühlt. Den Bären hatte er sich nur als Begleiter ausgewählt, da dieser ihm Sicherheit gegeben hatte.


Er hatte ihn ausgenutzt. Es war ihm immer nur um das eigene Wohl gegangen. Einen großen Krieger auf derselben Seite zu wissen, war eine Stütze in seinem Leben gewesen. Jetzt bröckelte sein Palast aus Lügen. Mehr als eine Zweckgemeinschaft war es nicht. Das hätte er nicht zugelassen.


Zu verletzt war sein Inneres und zu tief das Loch in ihm, welches es zu schließen galt. Kein Hemnan auf dieser verdammten Welt würde es je ausfüllen können.


Der Gebrochene wollte weinen, anerkennen, dass er sich selbst betrogen und doch eine Bindung zu Belasar gespürt hatte, aber es ging nicht. Seine Augen blieben trocken, während der große Mann allmählich dahinschied. Eine sanfte Prise streichelte Theovins Bart und sein entstelltes Gesicht. Er lehnte sich über die Brüstung.


Gern hätte der Gebrochene behauptet, dass es ihn überraschte, was er sah, aber das traf nicht zu. Nichts anderes hatte er erwartet. Kaltes Fleisch, von Schnee begraben. Er erkannte sein eigenes Schicksal in den Leichenbergen.


So lange floh er schon vor dem, was ihn verfolgte, dass es sich fast nach Erlösung anfühlte, als Theovin seine Füße über die Brüstung baumeln ließ. Der Tod hatte ihn eingeholt.


Rote Augen bohrten sich in seine Seele. Giftige Wörter verfluchten ihn. Niemand hatte sie je ausgesprochen, aber er selbst sie immerzu gedacht. Nach all den Jahren begriff er dies.


Es war keine Abscheu gewesen, die sich in den Pupillen seiner Mutter widergespiegelt hatte, gar Verzweiflung, Widerwille oder Angst, sondern Trauer. Sie hatte ihn in ihren letzte Momenten nicht verflucht, gar an sich gedacht. Nur an ihn und an all den Kummer, den er in Zukunft auf sich laden sollte. Nicht anders war es gekommen.


Er war immerzu nur weggelaufen. Fast schon ironisch, dass er dies nicht mehr konnte. Auf dem Hof sah er die, zu denen er sich schon bald gesellen würde.


Anders als die Männer unter ihm, hatte Theovin eine Wahl. Kein der schwarzen Kreaturen bestimmte sein Ende, lediglich er selbst.
Während Theovin sich umsah, stellte er fest, dass das Festungstor offen stand. Ein Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht des Erlösten ab. Er freute sich für andere, solche die mit mehr Glück gesegnet waren, als er.


Im Osten erhob die Sonne ihr Haupt, über einen Berg am Horizont. Vom Turm aus konnte man über die Mauer hinweg sehen. Ein verschneites Gebirge, Tannenwälder und ein Meer aus Wolken, lagen um das  Ewigkeitsfort herum. Es war – trotz allem – ein unvergleichlicher Ausblick. Womöglich der Beste, den Theovin je genossen hatte.
Es wurde warm in seiner Brust. Zärtliche Lichtstrahlen kitzelten das Gesicht des Soldaten. Er drehte den Kopf zu Belasar.


„Danke. Für alles.“


Keine Lügen, nur die Wahrheit. Er gestand es sich ein.
Das erste Mal seit Jahren, flossen Tränen über die, vor Kälte rot leuchtenden, Wangen des Mannes.

 
Endlich konnte er loslassen. 

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