12. Mai 1957

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Johann wartete gespannt, alle zehn Minuten auf die Uhr schauend. Aleksandra hatte für heute Abend einen Besuch im Bolschoi-Theater organisiert. Schachlikow, der kurz vor fünf Uhr anklopfte und das Arbeitszimmer betrat, trug einen schwarzen Anzug mit dunkelroter Krawatte.

„Herr Doktor, sind Sie fertig? Genossin Piatnizkaja wird sicher pünktlich kommen. Johann nickte und schmunzelte: 

„Ihre heutige Adjustierung wirkt nicht besonders revolutionär. Ich meine, abgesehen von der roten Krawatte.“

Schachlikow nahm den Ball auf: „Das Stück ist ja auch nicht von Schostakowitsch, sondern von Ihrem Mozart. Und ich habe kein Problem, mich dafür in dieses bourgeoise Kostüm zu kleiden. Die Oper ist ja grundsätzlich ein Ort der Verkleidung.“

Als sollte man die Uhr danach stellen können, läutete um Punkt 17h00 die Zimmerglocke. Während Schachlikow ging, um zu öffnen, betrachtete Johann sich schnell noch einmal im Spiegel. Den Gehrock, den er für formellere Anlässe mitgenommen hatte, hatte er im Dampf der heißen Dusche glatt gestrichen. Irgendwie freute er sich darauf, das berühmte Opernhaus einmal von innen zu sehen. Auch stellte er sich die Frage, wie Mozart wohl in der Sowjetunion gespielt und gesungen wurde. Seine Überlegungen in dieser Richtung wurden schlagartig abgebrochen, als Schachlikow mit Aleksandra in den Raum trat. Johann brauchte einen Augenblick, um ihre zum Gruß gereichte Hand zu ergreifen. Ihr Anblick hatte ihm schier die Sprache verschlagen. Aleksandra trug ein bodenlanges, weinrotes Kleid und einen dazu passenden, breiten Seidenschal. Ihre Haare, die sonst streng zurück gebunden waren, trug sie zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt. Erst beim zweiten Blick fiel Johann auf, dass sie zu diesem umwerfenden Ensemble keinen Schmuck trug. Bisher war sie immer in unauffälligen grauen, grünen oder dunkelbraunen Kostümen erschienen, stets in derselben Weise frisiert und nie geschminkt.

Mit einem Anflug von Freude bemerkte auch Alexandra, dass ihr Gegenüber wohl erstaunt war. Sie hatte das Kleid aus der zuständigen Abteilung des Außenministeriums ausgeborgt, weil es ihr nie in den Sinn gekommen wäre, so etwas für sich selbst haben zu wollen. Genauso wenig würde sie freiwillig in die Oper gehen, aber General Schelepin hatte auf dem heutigen Termin bestanden. 

„Herr Doktor Erath, ich freue mich auf einen schönen Abend. Wir werden als Gäste des osmanischen Botschafters die Vorstellung aus seiner Loge sehen können. Und, das wird Sie freuen, auch Ihr Bekannter, Oberstleutnant Bruschek, wird anwesend sein.“

Erst dieser Hinweis erinnerte Johann daran, dass er seit zwei Wochen nichts mehr von seinen Reisebegleitern gehört hatte. Hatte er wirklich während dieser Zeit nur mit Aleksandra und Schachlikow gesprochen? Die Tage waren wie im Flug vergangen.

„Nach der Vorstellung wird der Botschafter uns zum Abendessen in die Botschaft einladen. Genossin Piatnizkaja schlägt daher vor, morgen mit der Arbeit erst nach dem Mittagessen zu beginnen, um ausreichend Regenerationszeit zu haben.“

Johann, immer noch von Aleksandras Anblick fasziniert, nickte geistesabwesend als Reaktion auf Schachlikows Übersetzung.

„Bitte sagen Sie Frau Doktor Piatnizkaja, dass ich mit dem Vorschlag gerne einverstanden bin. Ich freue mich sehr, Oberstleutnant Bruschek und Generalwachtmeister Winter wiederzusehen.“

Schachlikow schüttelte verwundert den Kopf: „Thomas wird nicht dabei sein. Die Einladung des Botschafters galt – ganz wie es im Westen üblich ist – nur dem Vorgesetzten. Habe ich ein Glück,“ fügte er mit einem Schmunzeln hinzu, „dass Sie noch nicht gut genug Russisch können, um auf mich als Dolmetscher zu verzichten. Sonst würde auch ich natürlich nicht an diesem Abendessen teilnehmen können.“

Botschafter Yenal, der mit Oberstleutnant Bruschek schon in der Loge war, als Aleksandra, Johann und Schachlikow kamen, begrüßte zuerst sie in akzentfreiem Russisch und wies ihr den besten Platz in der Loge zu. Dann begrüßte er auf Deutsch Johann: „Ich freue mich, dass Sie der Einladung gefolgt sind. Oberstleutnant Bruschek hat mir viel von Ihnen und Ihrem Wissensdurst erzählt. Wenn Sie einmal Ihre Forschungen in Russland abgeschlossen haben, müssen Sie unbedingt einmal die Türkei bereisen.“

Er wies ihm den Platz neben Aleksandra zu und setzte sich neben ihn. Oberstleutnant Bruschek und Schachlikow setzten sich auf die beiden Plätzen dahinter. 

„Darf ich fragen, weshalb Sie Deutsch sprechen, Herr Botschafter?“, fragte Johann, der über die Begrüßung überrascht war und sich gleichzeitig fragte, was Bruschek dem Botschafter wohl wirklich alles erzählt habe.

„In gewisser Hinsicht sind wir Landsmänner. Meine Familie war über Jahrhunderte im Dienste der Sultane auf dem Balkan eingesetzt. Nach der Eroberung Bosnien-Herzegowinas durch die Habsburger – nein wie Sie sagen würden, nach der Übernahme des Protektorats über das unabhängige Land durch die Habsburger – 1878 wurde mein Urgroßvater Cemal osmanischer Konsul in Sarajewo. Mein Großvater war im Ersten Weltkrieg Verbindungsoffizier in Wien, wo auch mein Vater geboren wurde. Nach der jungtürkischen Revolution war das politische Engagement der Yenals kurzfristig eingestellt, doch nach der Restauration von 1932 beauftragte Sultan Abdulmecid meinen Großvater erneut mit einem Posten in Wien, diesmal als Botschafter. Deutsch war daher eine Sprache, die neben dem Türkischen in meiner Familie immer gelernt und gesprochen wurde. Und da mein Großvater eine Bulgarin aus Kazanlak heiratete, war mir auch die Grundlage für das Verständnis der slawischen Sprachen in die Wiege gelegt. Mein Onkel hat auch nach Bulgarien geheiratet und lebt bis heute in Kazanlak. Doch alles Weitere sollten wir beim Essen besprechen, denn jetzt müssen wir uns erst einmal eine marxistische Werkseinführung anhören, die uns den klassenkämpferischen Wert dieser Oper erklären wird.“

Johann zuckte bei dieser spöttischen Bemerkung etwas zusammen. Zwar konnte Aleksandra diese Verhöhnung nicht verstanden haben, aber Schachlikow saß direkt hinter ihm. Johann wandte sich um, um zu sehen, ob er etwas gehört hatte und wie er darauf reagierte. Schachlikow beugte sich vor und flüsterte ihm in das Ohr, das dem Botschafter zugewandt war, so dass dieser alles mithören konnte: „Ich werde wohl die großartigen Ausführungen des Kommissars für sozialistisches Kunstverständnis nur in Auszügen übersetzen können, da dieses Vokabular nicht zu meinem Spezialgebiet zählt. Außerdem ist die Oper ja selbsterklärend, denn sie zeigt das hervorragende Einvernehmen des fortschrittlichen Österreich mit der ihr historisches Erbe aufarbeitenden türkischen Monarchie, wenn ich das Programmheft richtig interpretiert habe.“ 

Mit einem Augenzwinkern gab er Johann das Programmheft, das allerdings nur in kyrillischer Schrift abgefasst war.
Der Botschafter warf Schachlikow einen kurzen Blick zu, bevor er unverwandt zu Johann weitersprach: „Wie klug doch die sowjetischen Übersetzer geworden sind. Falls Sie nicht kyrillisch lesen können: Wir sehen heute die ‚Entführung aus dem Serail.‘“

Johann zuckte zusammen: Gut, dass er den Termin nicht ausgesucht hatte. Es hätte nicht gerade von viel diplomatischem Geschick gezeugt, den osmanischen Botschafter zu dieser Oper einzuladen, die sich über Haremsbräuche und Patriarchat im osmanischen Reich lustig machte. Aleksandra hingegen schien den inzwischen begonnen habenden Ausführungen des Kulturkommissars interessiert zu lauschen. 

Nachdem die etwa fünfzehnminütige Einführung abgeschlossen war, ging der kleine, grauhaarige Mann von der Bühne. Als Erste stand Aleksandra auf, und noch im Aufstehen der anderen flüsterte Schachlikow Johann ins Ohr: „Vor der Oper wird die sowjetische Hymne gespielt.“

Johann war peinlich berührt, dass nicht nur Aleksandra und Schachlikow, sondern auch der Botschafter die Hymne mitsangen. Oberstleutnant Bruschek salutierte schweigend.

Als alle sich nach der Hymne setzten und das Licht langsam dunkler wurde, wandte sich der Botschafter wieder an Johann: „Ich singe diese Hymne natürlich aus Respekt vor der Sowjetunion; und“, dabei blickte er mehr auf Schachlikow als auf Johann „weil die Melodie auch mit jedem anderen Text singenswert wäre.“

Musikalisch war die Oper ein Genuss, auch wenn Johann während der Vorstellung mehrere Male zu Botschafter Yenal hinübersah, ob er durch die doch sehr plumpen Anspielungen auf die unzulänglichen Lebensbedingungen in einem Harem nicht beleidigt würde. Aleksandra, die sich aus Opern grundsätzlich nichts machte, hatte in der Pause nur über die sozialistisch präzise Darstellung der revolutionären Frau verwiesen, die die männlich-chauvinistische Ordnung aufbreche. Johann hatte mit einem Schmunzeln wahrgenommen, dass Botschafter und Oberstleutnant diese Interpretation doch recht befremdlich fanden.

Als man nach der Oper über das Stiegenhaus der Logengäste nach unten ging, wartete eine Gruppe verschieden Uniformierter. Hätte Johann früher ein leichtes Unbehagen dabei empfunden, war es ihm nun fast normal geworden. Oberstleutnant Bruschek salutierte vor den anderen, die diesen Gruß erwiderten und einander dann freundschaftlich die Hände reichten. Der Botschafter übernahm die Vorstellung: „Frau Doktor Piatnizkaja, ich darf ihnen Oberst Iwan Nischalep von der Attacheabteilung des sowjetischen Verteidigungsministeriums vorstellen, einen guten Freund, der ebenfalls mit uns zu Abendessen wird.“ 

Aleksandra nickte formvollendet und reichte dem Oberst zum Gruß die Hand. Der Botschafter stellte nun dem Oberst die übrigen Personen vor. 

Der Oberst begann nun seinerseits, seine Begleitung vorzustellen: „Ich darf sie bekannt machen mit Genossin Oberstarzt Maria Bogenza, der Leiterin des Moskauer Luftwaffenspitals, Oberst Thomas Zollnikow, dem Leiter der Presseabteilung des sowjetischen Verteidigungsministeriums, Oberst Marcel Jacob Saecal, dem französischen Verteidigungsattaché, und Oberst Cemal Yenitschar, dem ihnen natürlich vertrauten türkischen Verteidigungsattaché. Wie die vier mir verraten haben, werden sie heute noch auf dem Lenin-Turm dinieren, von wo aus man eine perfekte Sicht auf das nächtlich erleuchtete Moskau hat.“

Johann begrüßte wie die übrigen Mitglieder seiner Gruppe die Vorgestellten. Seltsam überrascht war er davon, eine Frau in Uniform zu sehen. So etwas war in Österreich völlig undenkbar, sah man von den Schuluniformen der Lehrerinnen und den Trachten der Krankenschwestern einmal ab. Hier war die Sowjetunion wirklich einen sehr eigenen Weg gegangen, obwohl Johann noch nicht wusste, ob ihm das behaglich war. 

Nach einer mehr formlosen Verabschiedung begab sich die Gruppe des Botschafters zu den beiden vor dem Ausgang wartenden Fahrzeugen, die mit der osmanischen Flagge geschmückt waren: „Es erleichtert das Durchkommen im Moskauer Abendverkehr ungemein, diese kleinen Fähnchen dabeizuhaben.“ meinte er in seiner gewinnenden Art. Er und Oberstleutnant Bruschek fuhren im ersten Wagen, Aleksandra, Johann und Schachlikow im zweiten. Der als Oberst Nischalep Vorgestellte folgte in einer dunklen Limousine mit militärischem Kennzeichen.

Obwohl Johann inzwischen meinte, viel über Aleksandra gelernt zu haben, überraschte sie ihn erneut, als die Gruppe auf dem Gelände der Botschaft aus dem Wagen stieg: Als hätte sie das oft getan, wickelte sie ihren Seidenschal, den Johann nur für ein schmückendes Accessoire gehalten hatte, zu einem Kopftuch zusammen, das ihre Frisur verbarg. 
Auf seinen fragenden Blick antwortete sie: „Nur damit sie diese Geste richtig verstehen, ich halte nichts von der Unterdrückung von Frauen, aber ich respektiere kulturelle Gewohnheiten anderer Menschen, wenn durch diesen Respekt den anderen der Zugang zum Sozialismus erleichtert wird. Und dann wird man bei aller kulturellen Verschiedenheit die gleichen Ziele verfolgen können.“

Schachlikow hatte noch nicht zu Ende übersetzt, als auch der Botschafter und Bruschek hinzutraten. Der Botschafter wies der Gruppe den Weg zum Haupteingang. Im Gehen wandte er sich an Aleksandra: „Ich weiß Ihre Geste sehr zu schätzen. Wenn Sie möchten, wird meine Frau nach unserem Abendessen kommen und für Sie eine Führung durch die Gärten der Botschaft machen, die sie selbst mit großer Sorgfalt neu angelegt hat.“ 

Aleksandra griff den Ball geschickt auf: „Herr Botschafter, ich bedanke mich für diese Möglichkeit. Gartenarchitektur gehört nicht zu meinem Spezialgebiet, weshalb ich hier gerne von einer Expertin dazulernen werde. Außerdem liegt mir das Rauchen der Wasserpfeife nicht, zu dem sie die Herren nach dem Essen wohl einladen werden.“

Nach einem hervorragenden Abendessen, das in einem orientalisch eingerichteten Raum auf großen Platten serviert worden war, begleitete ein Angestellter Aleksandra aus dem Raum. Die Platten wurden abgeräumt und zu jedem der niedrigen Liegeplätze eine Wasserpfeife gestellt. 
„Herr Doktor, ich habe Ihre Pfeife sehr mild herrichten lassen, weil ich vermute, dass sie so etwas noch nicht probiert haben.“ 

Johann war in einer Zwickmühle: Grundsätzlich machte er sich überhaupt nichts aus Rauchwaren. Und eine Wasserpfeife hatte er wirklich noch nie geraucht. Er versuchte einfach dem Beispiel der anderen zu folgen.

Obwohl Schachlikow, der die Liege neben ihm hatte, eifrig alles übersetzte, was die beiden Militärs mit dem Botschafter besprachen, verschwamm das Bild immer mehr vor Johanns Augen. Je mehr sein Geist durch den Rauch benebelt wurde, desto mühsamer versuchte er, den politischen und militärischen Überlegungen zu folgen. Bei den Diskussionen um das verbesserte diplomatische Klima zwischen dem Osmanischen Reich und dem Iran konnte Johann mit einigen Fakten aus der früheren Geschichte der Abbasidenkalifen punkten. Als das Gespräch auf die Politik Frankreichs in Algerien kam, schloss er sich im Gegensatz zum zurückhaltenden Bruschek ganz dem klaren Protest des russischen Oberst an, der das militärische Vorgehen grundsätzlich in Frage stellte, um unterworfene Gebiete in ihrem Zustand niederzuhalten, während man gleichzeitig bei den Vereinten Nationen für mehr Menschenrechte und die Selbstbestimmung der Völker sprach.

„Oberst Saecal würde Ihre Ansicht sicher missfallen.“ goss der Botschafter noch etwas Öl ins Feuer. 
„Ich würde es ihm auch direkt ins Gesicht sagen, denn meines Erachtens ist die Diplomatie viel zu feige, um die Wahrheit auszusprechen. Lieber agieren sie im Dunkeln und verschleiern durch ihre Worte mehr als sie enthüllen. Da empfehle ich den Epheserbrief, wo es heißt: ‚Alles, was aufgedeckt wird, wird vom Licht erleuchtet. Alles Erleuchtete aber ist Licht!‘ So müssten wir miteinander reden, dann ersparten wir uns jeden Krieg und jede Ungerechtigkeit!“

Durch die Wasserpfeife seltsam enthemmt, fügte Johann eine Tirade über die heuchlerische Politik der Französischen Revolution an, die weder der Befreiung der Menschen gedient hätte, weil sie Frauen und Sklaven ausdrücklich und gewaltsam niedergehalten hätte, noch die Gleichheit der Bürger und die Freiheit des Gewissens berücksichtigt hätte, indem sie Gläubige aufgrund ihres Glaubens hingerichtet hätte. 

Auch Oberstleutnant Bruscheks Versuch, ihn etwas zu bremsen, schlug er aus und hob gerade an, jede Form der Religionsunterdrückung als absolut inkonsequent zu geißeln: „Wären die atheistischen Systeme in sich stimmig, würden sie sich von selbst durchsetzen und müssten nicht Gläubige verfolgen und töten. Aber wer sich der eigenen Sache nicht sicher ist, den verunsichert das Zeugnis der anderen: Deshalb will er sie entweder umerziehen oder ermorden!“

Hatte der russische Oberst bis jetzt mit großem Interesse zugehört, stimmte ihn diese Richtung noch neugieriger. 
Botschafter Yenal versuchte, das Gespräch in eine harmlosere Richtung zu lenken und fragte, ob noch jemand etwas Kaffee möge. Doch der russische Oberst richtete die Frage nun direkt an Johann; und Schachlikow blieb nichts anderes übrig, als wörtlich zu übersetzen: „Sie vertreten eine radikale Position. Leider bin ich zu wenig in bestimmten Gebräuchen Ihrer Institution bewandert. Bitte helfen Sie mir: Wollten Sie die Religionspolitik der Sowjetunion kritisieren, die die Menschen von einer unterdrückenden Bevormundung und einer absichtlichen Irreführung bewahren möchte, oder hatten Sie die Politik zahlreicher westlicher Potentaten im Sinn, die ausdrücklich christliche Regeln und Moralvorstellungen, die auf einer angeblichen Offenbarung basieren, allen in Ihren Staatsgebieten lebenden Menschen verpflichtend auferlegen wollen, oftmals unterstützt durch Ihre Organisation, weil die Menschen logischerweise nicht vernünftig von der Richtigkeit dieser Regeln überzeugt werden können?“

Für Johann war das eine klare Kampfansage. Bruschek und Yenal warteten gespannt auf die Antwort, Schachlikow blickte abwechselnd auf Johann und den Oberst. „Ich denke“ formulierte Johann, der mit aller Kraft versuchte, langsam und deutlich zu sprechen, obwohl ihm seine Zunge zu lang vorkam und seine Lippen sich nur schwer seinem Willen unterwarfen: „dass jedes System das Recht hat, seine Vorstellungen in einer Sprache darzulegen, die von allen verstanden werden kann, egal ob das System auf Offenbarungen, Naturbeobachtungen oder philosophischen Überlegungen aufgebaut ist. In jedem Fall muss der einzelne die freie Entscheidung haben, sich dem System anzuschließen oder es abzulehnen. Das Verbot der Zwangstaufe, um ein Beispiel aus meiner Institution zu nennen, ist inzwischen anerkanntes Faktum und durch den unvordenklich alten Ritus theoretisch immer gewahrt worden, nach dem jeder selbst um die Taufe bitten muss. Jedes System, Ihres und meines nicht ausgenommen, steht aber in der Gefahr aus Ungeduld nicht die Einsicht der Menschen abzuwarten, sondern ihre Zustimmung durch die Anwendung von sozialem, finanziellem oder militärischem Druck zu beschleunigen. Und die Existenz von Kommunisten in Österreich sowie Christen in der Sowjetunion, trotz ungerechter staatlicher Verfolgung, zeigt, dass manche diesem Druck immer widerstehen werden. Und selbst ihre Ermordung wird den Widerstandswillen der anderen nicht brechen, sondern stärken, wie die Märtyrer aller Systeme beweisen. Mit derselben Heftigkeit, wenn das Ihre Frage beantwortet, verurteile ich die repressive und zum Teil mörderische Religionspolitik der Sowjetunion wie ich die Missions- und Staatskirchenpolitik in westlichen Ländern verurteile, die an der Einsicht der Gläubigen vorbei katholisches Verhalten erzwingen will.“

Der Oberst stand mit einem Ruck auf, woraufhin auch der Botschafter, Oberstleutnant Bruschek und Schachlikow aufstanden. Auch Johann versuchte, schnell aufzustehen, taumelte aber zurück. Schachlikow half ihm auf und stützte ihn so unauffällig wie möglich. Der Oberst wandte sich an den Botschafter: „Herr Botschafter, das Essen war hervorragend. Bitte übermitteln Sie Ihrer Gattin meine besten Wünsche. Es ist sehr spät geworden und ich muss morgen früh zur Arbeit.“

Johann war etwas verwirrt und richtete das Wort noch einmal an den Oberst: „Ich wollte Sie in keinem Fall beleidigen. Vielleicht können wir das Gespräch zu einem geeigneteren Zeitpunkt fortsetzen?“

Schachlikow übersetzte unter dem aufmerksamen Zuhören von Botschafter Yenal: „Doktor Erath entschuldigt sich für alle missverständlichen Äußerungen, die eventuell das Ansehen der Sowjetunion oder des Herren Oberst gekränkt haben könnten.“

Der Oberst nickte grimmig. An den Botschafter gewandt, meinte er: „Ich denke, es ist auch besser, wenn ich die Genossin Piatnizkaja mitnehme. Für Doktor Erath ist es sinnvoller, wenn er mit Genossen Schachlikow direkt zum Hotel zurückfährt.“

Der Botschafter führte den Oberst, der sich förmlich von Bruschek und Johann verabschiedet und Schachlikow ignoriert hatte, zur Eingangstüre: „Vielen Dank, ich werde Doktor Piatnizkaja sofort zu Ihrem Wagen begleiten lassen. Ich hoffe, Sie bald wieder als Gast in unserem bescheidenen Haus begrüßen zu dürfen. Dieser Ort steht Ihnen gerne für weitere Treffen zur Verfügung.“

Nachdem der Wagen das Gelände der Botschaft verlassen hatte, wandte sich der russische Oberst an Aleksandra, die ihren Schal nun wieder um die Schultern gelegt trug: „Deine Berichte haben nicht zu viel versprochen. Ich denke, dieser Erath ist unser Mann.“

Aleksandra wandte sich an ihren Sitznachbarn: „Genosse General, ich verstehe den Zweck der heutigen Begegnung nicht. Mir war klar, dass ich Sie mit der von Ihnen gewählten Identität ansprechen werde, aber warum dieses Treffen und warum in der osmanischen Botschaft?“

„Es gibt in Moskau wenige Orte, an denen General Schelepin sich unbefangen mit anderen treffen kann. Diese etwas gewöhnungsbedürftige Hintergrundmusik, die uns heute den ganzen Abend begleitete, sollte dafür sorgen, dass unser Dienst nicht allzu viele Informationen abhören konnte, wofür ich natürlich morgen bestimmte Personen zur Rechenschaft ziehen werde. Cemal, der Botschafter, ist nicht nur ein guter Freund des österreichischen Attachés, auch wir beide kennen uns seit vielen Jahren und haben schon öfter zusammengearbeitet. Er hatte auch die Idee mit dem Haschisch in der Wasserpfeife, um die Zunge unseres Gastes etwas zu lösen. Die Reaktion war wie gewünscht. Ich denke, wir haben einen mutigen, wenngleich etwas verklemmten Verbündeten an der Hand.“

Aleksandra fiel dem General ins Wort: „Sie haben ihn Haschisch rauchen lassen?“

Schelepin nickte: „Ja, und alles Mögliche andere, das Cemal zusammengestellt hat. Möglicherweise hat er morgen etwas Kopfschmerzen. Sonst sollte es keine Nebenwirkungen geben. Genosse Schachlikow wird ihn nachhause bringen und schlafen legen.“

Aleksandra blieb angespannt.

„Das war der Grund, warum ich nicht wollte, dass du ihn nachhause bringst. In diesem Kleid und bei seiner gelockerten Stimmung wäre das eine zu große Gefahr für seine Enthaltsamkeit. Und wir wollen ihn ja nicht durch eine Unachtsamkeit bei seiner Institution angreifbar machen.“

Aleksandra fühlte einen gewissen Groll gegen ihren Mentor in sich aufsteigen: „Erstens könnte ich mich sehr wohl allein verteidigen, wie Sie allen Berichten über meine Nahkampfausbildungen entnehmen können. Zweitens bin ich mir vollkommen sicher, dass auch unter widrigsten Umständen sein Pflichtgefühl die Oberhand behalten würde.“

Schelepin wandte sich nun ebenfalls direkt Aleksandra zu: „Du versuchst nicht gerade, ihn zu verteidigen?“

Aleksandra hielt dem Blick stand: „Doch, und zu Recht, Genosse General. Ich habe die letzten zwei Wochen sehr viel Zeit mit ihm verbracht und meine, ihn in gewisser Hinsicht gut einschätzen zu können.“

Schelepin blickte nun wieder nach vorne: „Das meine ich auch. Aber in einem solchen Fall ist es wie mit einem großen Ziel: wenn man unmittelbar davorsteht, kann man zwar die Beschaffenheit seiner Oberfläche genau erkennen, die gesamte Form gerät aber aus dem Blick. Dafür benötigt es die Beobachtung aus der Distanz.“

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